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Arbeitgeberanlass 2023

Long Covid
ein Thema, das die Arbeitswelt bewegt


Bereits zum elften Mal hat die IV-Stelle Kanton Bern einen Anlass für Arbeitgebende durchgeführt. Thema der diesjährigen Veranstaltung vom 25. Januar: Long Covid – Auswirkungen auf die Arbeitswelt. Über 300 Personen sind der Einladung gefolgt und haben in spannenden Referaten erfahren, wie die IV mit der neuen Krankheit umgeht, wie der neuste Stand der medizinischen Forschung aussieht und welche Herausforderungen sich aus sozialversicherungsrechtlicher Sicht stellen.


Beitrag von Matthias Zobrist, 1. Februar 2023
 

In seiner Einführung hat Dieter Widmer, Direktor der IV-Stelle Kanton Bern, zuerst einmal beruhigt. Er sei optimistisch, dass Long Covid nicht zu einer Welle führen werde, welche die IV überrollt. 2022 waren schweizweit 1900 Menschen wegen Long Covid bei der IV angemeldet. Zum Vergleich: Im selben Zeitraum gab es über 80'000 Neuanmeldungen. Der Anteil der Long-Covid-Betroffenen entspricht also gut zwei Prozent. Die grosse Herausforderung sieht Dieter Widmer vielmehr bei den psychischen Erkrankungen. Hier hat sich der Anteil bei zugesprochenen Neurenten von 2017 bis 2021 von 42 auf 49 Prozent erhöht.

Trotzdem ist Long Covid für die IV-Stellen eine Herausforderung – wegen des unspezifischen Krankheitsbildes: «Die IV ist vom Gesetz her verpflichtet, jeden Fall unvoreingenommen und ergebnisoffen anzuschauen. Die subjektive Wahrnehmung der versicherten Person muss mittels medizinischen Abklärungen objektivierbar gemacht werden. Das ist bei gewissen Beschwerden nicht ganz einfach», führte Dieter Widmer aus. Wie bei psychischen Erkrankungen können auch bei Long Covid keine objektiven Befunde wie Röntgenbilder oder Laborwerte herangezogen werden. Deshalb wird bei solchen Krankheitsbildern ein strukturiertes Beweisverfahren angewendet. Das ist keine exakte Wissenschaft für das Messen der Arbeitsfähigkeit, sondern eine Annäherung anhand von sechs Indikatoren:

  • Welche konkreten Auswirkungen hat die Krankheit im Berufsalltag?
  • Gibt es andere Einflüsse, welche die Leistungsfähigkeit beeinträchtigen?
  • Wurden die Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft?
  • Wie war der Erfolg der bisherigen Behandlungen und Eingliederungsmassnahmen?
  • Gibt es weitere gesundheitliche Beeinträchtigungen?
  • Wie wirkt sich Befund aus Beruf in der Freizeit aus?

Ein allgemeingültiger Schluss lasse sich laut Dieter Widmer nicht ziehen. Bei jeder einzelnen Person, die sich wegen Long Covid bei der IV anmeldet, müsse anhand der sechs Indikatoren geprüft werden, wie sich die Beschwerden auf die Erwerbsfähigkeit auswirken. Dabei legt die IV den Fokus darauf, die Betroffenen mit Eingliederungsmassnahmen zu unterstützen, damit sie in den ersten Arbeitsmarkt zurückzukehren können. 

Arbeitsplatzerhalt als oberstes Ziel
Wie das aussehen kann, erläuterte die Eingliederungsfachfrau Teresa Thürig. Wichtig sei, dass auch die Arbeitgeber wachsam seien. «Droht eine längere Arbeitsunfähigkeit sollte die IV möglichst bald ins Boot geholt werden. Denn dadurch können wir rasch mit den Abklärungen beginnen und Unterstützung bieten», erklärte die IV-Mitarbeiterin. Denn es sei ungemein schwieriger, dass jemand an neuer Arbeitsstelle wieder Fuss fassen kann, als wenn dies beim bisherigen Arbeitgeber möglich ist. Noch während der Abklärung, ob jemand überhaupt Anspruch auf IV-Leistungen hat, kann die IV mit Frühinterventionsmassnahmen die versicherte Person und ihren Arbeitgeber unkompliziert unterstützen. Hat sich der Leistungsanspruch bestätigt, können gemeinsam weiter Schritte angegangen werden. Denkbare Massnahmen sind Anpassungen am Arbeitsplatz, ein Coaching, aber auch eine Umplatzierung innerhalb des Betriebs. 


Medizinische Einordnung

Was Long Covid für die Betroffenen bedeutet und wie schwierig eine Behandlung der Krankheit ist, schilderte Lara Diem, Oberärztin in der Klinik für Neurologie und Leiterin der Long-Covid-Sprechstunde am Inselspital in Bern. Nach Definition der Weltgesundheitsorganisation spricht man von Long Covid, wenn eine Betroffene oder ein Betroffener drei Monate nach einer Covid-Infektion weiterhin an Symptomen leidet. Schätzungen zufolge betrifft dies gut sechs Prozent aller Covid-Erkrankten.

Long Covid ist keine psychiatrische Erkrankung. Vielmehr ist es eine Überaktivierung des Immunsystems, was eine massive Produktion von Entzündungsstoffen auslöst und so die verschiedenen Symptome verursacht. Selten führt diese Reaktion zu Schäden, die mit Röntgen, MRI oder Ähnlichem nachweisbar sind. Bei den allermeisten Betroffenen gibt es aber keine objektiven Befunde. So können zum Beispiel Lungenfunktionstest völlig normal ausfallen, die betroffene Person hat aber trotzdem starke Atemnot und kann kaum eine Treppe hochsteigen.

Die Unterschiede bei den Einschränkungen sind sehr gross. «Wir behandeln im Inselspital etwa 500 Personen, die an Long Covid leiden. Es gibt aber keine zwei Fälle, die gleich sind. Wir müssen jede Patientin, jeden Patienten individuell anschauen», erzählte die Medizinerin. Die Symptome reichen von chronischem Durchfall, Atemnot, Husten, massiven Nervenschmerzen, Stechen in der Brust, Verlust des Geruchs- und Geschmacksinns, ständigem Ohrensausen bis hin zu neurologischen Beschwerden.

Hier ist vor allem die Fatigue hervorzuheben, diese ausserordentliche Erschöpfung. Sie ist das klar häufigste Symptom bei Long-Covid-Patientinnen und -Patienten. Die Betroffenen würden gerne etwas leisten, sind körperlich und/oder geistig jedoch schlicht nicht in der Lage dazu. Oft kommt diese Entwicklung schleichend. Körperlicher, geistiger oder emotionaler Stress kumulieren sich und dann kommt es zum Zusammenbruch.

Schwierige Behandlung
Eine medikamentöse Behandlung von Long Covid gibt es im Moment nicht. Deshalb kommen Physiotherapie, Ergotherapie, psychiatrische Behandlungen, Entspannungsverfahren, Rehabilitation und Medikamente zur Linderung von Symptomen wie Kopfschmerzen zum Einsatz. Zentral bei der Behandlung ist, den Zusammenbruch zu vermeiden, damit der Körper die Energie hat, das Immunsystem herunterzufahren und die Entzündungsstoffe zu eliminieren. Jeder muss dabei seine eigene Balance herausfinden. Was liegt drin, damit die eigenen Grenzen nicht überschritten werden und man durch einen Rückfall wieder zurückgeworfen wird?

Die Betroffenen müssen auch lernen auf Warnsignale ihres Körpers zu achten, Prioritäten zu setzen und Pausen einzuplanen. Das widerspreche unserer Leistungsgesellschaft, meinte Lara Diem, sei aber die Basis, damit sich die Patientinnen und Patienten wieder erholen können. Der Aufbau muss behutsam angegangen werden. So sollte zum Beispiel der Wiedereinstieg ins Berufsleben langsam und in kleinen Schritten erfolgen.

Befolgt man dies, sind die Prognosen nicht schlecht. Eine schweizweite Umfrage zeigt, dass die häufigsten Symptome mit der Zeit abnehmen. Trotzdem: Rund 40 Prozent der befragten Long-Covid-Patientinnen und -Patienten waren auch nach zwölf Monaten noch nicht komplett beschwerdefrei.


Eindrückliche Schilderung von Betroffenen

Wie herausfordernd der Weg zurück sein kann, zeigten die Geschichten von drei Direktbetroffenen. Einer von ihnen ist Daniel Aebersold. Der 51-Jährige war CEO der IT-Firma Nexplore bevor er im Dezember 2020 an Covid erkrankte. Innert einer Woche verschlechterte sich sein Zustand so stark, dass er auf die Intensivstation des Spitals Thun eingeliefert werden musste. Trotz intensiver Behandlung ging es ihm immer schlechter, so dass er ins Inselspital verlegt werden musste. Den behandelnden Ärztinnen und Ärzten blieb nur noch die Möglichkeit, ihn an die Herz-Lungen-Maschine anzuschliessen. Ganze zwei Monate war Daniel Aebersold im künstlichen Koma und abhängig von dieser Maschine. In dieser Zeit ist er mehrere Male knapp am Tod vorbeigeschrammt.

Doch er hat überlebt. Als er wieder aufgewacht war, merkte er sehr bald, dass seine Leistungsfähigkeit gegen Null tendierte: «Meine erste Aufgabe war, mir meine Zähne zu putzen. Und nicht einmal das, habe ich ohne fremde Hilfe geschafft», erinnerte er sich. Sein jahrelanger Weg zurück in die Normalität war natürlich auch der langen Zeit auf der Intensivstation geschuldet. Doch es sollte sich zeigen, dass eben auch Long Covid seine Finger im Spiel hatte. Die Erschöpfung blieb hartnäckig und bis heute hat Daniel Aebersold jeden Tag sehr starke Muskelschmerzen wie nach einer sehr langen Wanderung. Auch ist er bis heute bei körperlicher Anstrengung auf ein Sauerstoffgerät angewiesen. Trotzdem: Er arbeitet mittlerweile wieder, musste aber akzeptieren, dass seine Grenzen nicht mehr am selben Ort sind, wie vor der Covid-Erkrankung. Nicht immer einfach für jemand, der vorher immer volle Leistung gegeben hatte. So fiel es ihm auch schwer, als ihm der Hausarzt eine IV-Anmeldung nahelegte, auch wenn er letztlich vielleicht gar keine IV-Unterstützung brauchen werde. «Heute bin ich dankbar, habe ich mich damals angemeldet. Denn ich brauche die IV», schloss Daniel Abersold seine berührende Geschichte.


Juristische Ebene ebenfalls gefordert

Die Ungewissheit und Unsicherheiten rund um Long Covid fordern nicht nur die Betroffenen und die Medizin, sondern auch die Sozialversicherungen. Professor Philipp Egli, Leiter des Zentrums für Sozialrecht an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften ZHAW, zeigte auf, wo er die grössten Hürden sieht. Aus sozialrechtlicher Sicht ist vor allem die schwierige Beweisbarkeit eine Herausforderung. «Wer Leistungen beziehen will, muss nachweisen, dass mit überwiegender Wahrscheinlichkeit die Leistungsvoraussetzungen erfüllt sind. Und das ist schwierig, wenn sich die Beschwerden nicht objektivieren lassen», führte der Jurist aus. Das betrifft nicht nur die IV, sondern auch andere Sozialversicherungen wie die Unfallversicherung. Hier stellt sich unter anderem die Frage, unter welchen Bedingungen Long Covid als Berufskrankheit beurteilt werden kann. Dies ist der Fall, wenn das Risiko, sich mit der Infektionskrankheit anzustecken, durch die Ausübung des Berufs deutlich höher ist als beim Rest der Bevölkerung. Kann dies mit ja beantwortet werden, geht es in einem nächsten Schritt darum zu prüfen, ob die anhaltenden Beschwerden wirklich auf die Covid-Erkrankung zurückzuführen sind. Können diese beiden hohen Hürden übersprungen werden stellt sich eine weitere Frage: Wie wirken sich die Langzeitbeschwerden auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit aus.

Bei der IV stellen sich die Hürden des Kausalzusammenhangs zwischen Covid-Infektion und Langzeitbeschwerden sowie das Prüfen von deren Auswirkungen ebenfalls. Wie seine Vorrednerinnen und Vorredner strich auch Philipp Egli etwas heraus: Es sei wichtig, jeden einzelnen Fall unvoreingenommen und individuell zu prüfen. Denn das haben die Versicherten verdient.