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Abklärungsfachperson spricht mit Mutter und ihrer Tochter.
Arbeit einer Abklärungsfachperson

Wenn die IV
zu Besuch kommt


Um den Anspruch auf IV-Leistungen zu prüfen, braucht es manchmal eine Abklärung zu Hause bei unseren Kundinnen und Kunden. Der direkte Austausch vor Ort erlaubt nicht nur, sich ein genaueres Verständnis der individuellen Lebenssituation machen zu können. Er kann auch eine wertvolle Unterstützung für die Betroffenen sein – wie das Beispiel von Familie Bernhard zeigt.

Beitrag von Matthias Zobrist, 20. August 2025

Simone Hackl wird an diesem gewitterhaften Sommertag vom Familienhund Eira begrüsst. Doch die Abklärungsfachperson der IV-Stelle Kanton Bern, ist nicht seinetwegen nach Adelboden gereist. Ein paar Streicheleinheiten reichen dem Vierbeiner dann auch und er zieht sich zufrieden in sein Körbchen zurück. So kann sich Simone Hackl ganz auf den eigentlichen Grund ihres Besuchs konzentrieren: Gina Bernhard. Bei der heute 20-Jährigen wurde bereits früh eine Zerebralparese – mit welcher eine psychomotorische Entwicklungsverzögerung einhergeht – und eine Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert. Die junge Frau ist also nicht nur geistig beeinträchtigt, sie ist auch bei der Geschicklichkeit und der Bewegungskoordination eingeschränkt.

Entsprechend erhält Gina Bernhard seit längerem Unterstützung durch die IV. In der Kind- und Jugendzeit ist das nebst der Übernahme von gewissen medizinischen Massnahmen vor allem eine Hilflosenentschädigung. Diese Leistung können Menschen in Anspruch nehmen, die aufgrund ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung in ihrem Lebensalltag dauernd auf Hilfe anderer Personen angewiesen sind. Sie können sich beispielsweise nicht selber ankleiden, essen, duschen oder benötigen sogar eine dauernde Pflege oder persönliche Überwachung. Und genau um diese Hilflosenentschädigung geht es bei Simone Hackls Abklärung in Adelboden. Denn seit Gina Bernhard volljährig ist, erhält sie zwar eine IV-Rente, braucht aber weiterhin viel Unterstützung im Alltag – oder eben eine sogenannte lebenspraktische Begleitung. Dazu zählen Hilfeleistungen, die das selbstständige Wohnen ermöglichen – etwa Begleitung, wenn die betroffene Person ausser Haus geht oder Unterstützung beim Pflegen sozialer Kontakte. Ziel dieser Massnahmen ist es, den Alltag so zu gestalten, dass ein Eintritt in ein Heim verhindern werden kann.

Zielgerichtet und doch empathisch
Mit am Tisch sitzt Ginas Mutter Tanja Bernhard. Die meisten Fragen von Simone Hackl werden dann auch von ihr beantwortet. Kann sich Gina selbständig anziehen? Braucht sie Hilfe beim Duschen? Kann sie alleine einen kleinen Einkauf tätigen? Oder ist es ihr möglich, sich selber eine kleine Mahlzeit zuzubereiten? Immer wieder wird Gina ins Gespräch einbezogen. Wenn sie einmal nicht weiterweiss, springt ihre Mutter für sie ein – anfangs noch häufiger, später immer seltener. Denn mit ihrer empathischen Art schafft es Simone Hackl, eine vertrauensvolle Atmosphäre aufzubauen. Mit einfachen Fragen, wie was sie denn gerne esse oder welche Sendungen sie im Fernsehen schauen, gelingt es ihr, das Eis zu brechen und Gina behutsam aus der Reserve zu locken. Dabei verliert Simone Hackl nie ihr Ziel aus den Augen: eine fundierte Einschätzung über Ginas Selbständigkeit.

Eine spannende, herausfordernde Tätigkeit
Nicht immer verläuft eine Abklärung so entspannt wie an diesem Nachmittag bei Familie Bernhard. «Ich weiss nie genau, was mich bei den Menschen zu Hause erwartet und in welcher Verfassung ich sie antreffe», erzählt Simone Hackl. Immer wieder sei Flexibilität gefragt: Sie müsse sich jeweils spontan auf die Situation vor Ort einstellen. Das kann durchaus sehr herausfordernd sein, wenn sie zum Beispiel in eine völlig verwahrloste Wohnung komme, die Kundin oder der Kunde sie mit Suizidgedanken konfrontiere oder sie sich sogar mit konkretem Gewaltpotenzial auseinandersetzen müsse. «Es ist ein Balanceakt, einerseits der Situation sowie dem Menschen Raum zu lassen, andererseits aber auch den Fokus auf meinen Auftrag zu behalten. Ich versuche gewisse Dinge einfach auszublenden und meinem Gegenüber unvoreingenommen auf Augenhöhe zu begegnen», schildert sie ihr Erfolgsrezept. Bisher sei sie damit immer gut gefahren.

In den dreieinhalb Jahren, in denen sie bei der IV-Stelle Kanton Bern arbeitet, hat sie eine Menge erlebt. Routine oder Langeweile sind noch nie aufgekommen. «Im komme oft am Abend nach Hause und sage mir: Ich habe wirklich einen tollen Job.»

Zusammen an einem Tisch sitzen
Doch zurück zu Gina Bernhard nach Adelboden: Die eigentliche Abklärung ist abgeschlossen. Doch Tanja Bernhard nutzt die Gelegenheit, eine Mitarbeiterin der IV-Stelle Kanton Bern gegenüber zu haben und sucht das Gespräch. Denn auch ihre mittlere Tochter erhält aufgrund einer geistigen Beeinträchtigung Leistungen der IV. Nun sind mit derer Volljährigkeit Unklarheiten bei der Mutter aufgetaucht. Und hier zeigt sich die Herausforderung von Betroffenen und ihren Angehörigen: «Die administrative und bürokratische Arbeit ist teilweise schon enorm. Wir haben mit den unterschiedlichsten Stellen zu tun und für mich ist nicht immer ganz klar, wer für was zuständig ist. Da wünschte ich mir manchmal mehr Begleitung und Koordination», blickt Tanja Bernhard auf ihre langjährigen Erfahrungen zurück. Strukturelle Anpassungen, welche die IV-Stelle Kanton Bern mit ihrer neuen Strategie vorgenommen hat, tragen diesem Bedürfnis künftig deutlich besser Rechnung. So haben die Kundinnen und Kunden nur noch eine Ansprechperson bei der IV-Stelle – unabhängig davon, um welche Leistungen es geht. Zudem sollen sie verstärkter auf ergänzende Angebote von anderen Institutionen hingewiesen und der Zugang zu diesen Unterstützungsleistungen erleichtert werden.

Gespräche der IV vor Ort finden nicht in jedem Fall statt, für die Betroffenen können sie aber sehr wertvoll sein. «Manchmal wäre es wirklich hilfreich, könnte man sich einfach rasch zusammensetzen, um etwas zu klären. Das ist etwas ganz Anderes, als wenn man nur telefonisch oder schriftlich Kontakt hat», fasst Tanja Bernhard das Gespräch mit Simone Hackl zusammen. Und was würde sie anderen Betroffenen und ihren Angehörigen auf den Weg geben? «Vor allem Durchhaltewille, denn die teilweise langwierigen und komplizierten Prozesse erfordern viel Geduld. Gleichzeitig sollte man dankbar sein für die erhaltene Unterstützung, aber auch den Mut haben, Entscheidung zu hinterfragen, wenn sie nicht nachvollziehbar sind.»

Gina ist froh, ist der Besuch nun vorbei und kann sie ihren Feierabend geniessen. Morgen wartet schliesslich ein neuer Arbeitstag in der Institution ArWo Frutigland auf sie. Besonders freut sie sich auf die Momente davor und danach. Jeden Tag fährt sie ganz selbständig mit dem Bus von zu Hause zu ihrem Arbeitsplatz und wieder zurück – für sie immer ein Highlight des Tages. Denn fragt man Gina Bernhard, was ihr am meisten Freude bereitet, lautet die Antwort ganz eindeutig: Postautofahren.